Eine Art Sekte


von Silvia Bovenschen

Lesen? Als ob das immer das gleiche und immer schon das Gute wäre. Böse Menschen haben sehr wohl Bücher. Jeder Schrecken steht in Büchern und jede Anleitung zu seiner Verbreitung. Es rührt der Anblick des friedlich lesenden Kindes. Indes, wer weiß, was sich das in den Hirnen vorbereitet: eine Bombe oder ein Gedicht, oder beides zugleich. Es mag Kinder geben - obwohl ich das bezweifle -, die ein früher Drang zu Bildung und Gelehrsamkeit an die Bücher bringt. Nicht in meinem Fall. Meine frühe Jugend lag in einer noch fernsehfreien Zeit. Lesen war Amüsement, Lesen war das Eintauchen in parallele Welten, Lesen war Nicht- Alltag, war Sucht und Flucht vor Mühe und Langeweile. (Ich nehme an, daß die verachteten Zuschauer der Seriensoaps, die die Personage dieser Streifen besser kennen und mehr lieben als die Menschen ihrer Umgebung, von der gleichen Sucht nach einem mehrörtlichen Vorhandensein geleitet sind.)

- Lesen war das Andere, die Gegenwelt zur Schule und Artigsein. Nicht daß die "wirkliche" Welt, in der ich mich befand, grausam oder auch nur bedrängend war - ganz im Gegenteil -, aber die imaginären Welten, die sich in den Büchern auftaten und in die ich ohne Hemmung und Besinnung eintauchte, waren aufregender und für das kindliche Bedürfnis nach Anverwandlungen ergiebiger als die bürgerliche Welt der fünfziger Jahre. Ich weiß noch, daß ich ernsthafte Orientierungsschwierigkeiten hatte, wenn ich durch nahe Rufe aus meiner fernen Buchwelt herausgerissen und zum Mittagessen beordert wurde. Es war interessanter, ein siegreicher Pirat zu sein, als eine Schülerin mit einer Fünf in Mathematik. Lesen wurde elterlicherseits geachtet, gefördert, unterstützt. Lange hielt ich meine Welten strikt getrennt. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, in der Schule deutlich werden zu lassen oder gar einen Nutzen daraus zu ziehen, daß ich wußte, wer Marie Antoinette war, weil ich die Romane von Stefan Zweig im Wohnzimmerschrank gefunden hatte; das heute so gewollte Ansinnen, mich mit den arglosen Eltern über meine Lektüreeindrücke auszutauschen, wäre mir obzön erschienen. Verrat! Die Bücher und ich: wir waren eine Art Sekte. Lektüre war dunkle Geheimsache, nicht nur dann, wenn es sich um ein "verbotenes" Buch handelte.

Die Begierde meines frühen Lesens, es war maßlos und abgeschottet zugleich, hatte - um es im Vokabular dieser Zeit auszudrücken - etwas durchaus Liederliches. Nicht nur nach Maßgabe des alten platonischen Verdachts, selbst aus heutiger Sicht war diese besessene Vergessenheit näher beim Laster als bei der Einübung ins nützliche Leben. Und ein Teil der Leselust bestand wohl auch darin: eine tugendorientierte Anerkennung für ein pflichtvermeidendes Fluchtmanöver einzuheimsen. Die fanatische Abgeschiedenheit meines Leseverhaltens weckte irgendwann doch den Argwohn meiner Mutter. "Du könntest auch mal was tun" (zum Beispiel Mathematik lernen), sagte sie zuweilen, wenn ich wieder einmal auf dem Sofa mit einem Buch lümmelte. Dieser Satz machte mich zur Literaturwissenschaftlerin. Bis heute habe ich, solange ich "nur" lese, nicht die Idee einer Arbeit. Geblieben ist die Sehnsucht nach dem Buch, das mir noch einmal die Entgrenzung, Versunkenheit und Selbstvergessenheit meiner Kinderlektüre schenkt, das die Türen öffnet zu anderen Räumen und das Verschwinden begünstigt. Das Buch wird kommen. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 63f.)

Als ich die Mittelstufe des Gymnasiums erreichte und eine neue Deutschlehrerin auf meine kleine Bühne trat, eine Lehrerin, die ich mochte und der ich imponieren wollte, gab ich ruckartig die Sphärentrennung auf, beendete meine selbstverordnete Leseisolation, setzte massiv alles gestaute Wissen im Unterricht ein, ging ihr auf die Nerven und kam in den einschlägigen Fächern auf gute Noten. In diesem Alter entdeckte ich den Luxus öffentlicher Bibliotheken und stieß dort auf das Phänomen der Sekundärliteratur. Heimlich las ich, was Kluge, jedenfalls solche, die ich damals dafür halten mußte, über die Texte, die wir besprachen, schon einmal gesagt hatten. Ich tat es heimlich, weil ich diesen Gedankenklau für illegal hielt.

Mußte man nicht alles selbst erstmalig denken, original aus eigenen tiefsten Gründen herausholen? Was konnte so ein Gedanke aus zweiter Hand schon noch wert sein? Wie ein Dieb schaute ich mich verstohlen um, wenn ich die Bibliothek mit hochgeklappten Mantelkragen betrat oder sie verließ, stets auf der Hut davor, bei dieser Ideenverschleppung ertappt zu werden. Einige Jahre älter, merkte ich dann, daß das, was ich dort mit schlechtem Gewissen betrieben hatte, ungefähr dem entsprach, was man "wissenschaftliches Arbeiten" nennt. Mit gutem Gewissen machte es aber nicht mehr so viel Spaß. Jetzt, 2001, bei meinem erneuten Umzug, habe ich unter dem Gebot des Platzmangels mit großer Lust die Sekundärliteratur nahezu komplett aussortiert. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 65)


© Silvia Bovenschen: Älter werden, Frankfurt/M.: S. Fischer, 2006.


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