Die Gutenberg-Elegien

von Sven Birkerts


Schriftsteller
Lesen hinter verschlossenen Türen
Ein beschwerliches Geschäft
Eine konventionellere Belesenheit
Bibliothek in Kisten
Aufenthalt im Textraum
In tiefster Versunkenheit
In einen Lesezustand tranportieren
Simultane Bewußtheit
Zustand des Anderswoseins
Möglichkeit vertiefter Einsicht
Lesen ist ein Urteilsspruch
Seelenzeit
Beipackzettel für Bücher
Ein Buch besetzen
Innerer Kompost
High-Tech-Schnittigkeit
Kampf um die Hirne der Jugend
Begegnung im Medium Text
Aufmerksamkeitsdistribution
2 Arten der Kommunikation
Eine ausstehende Entscheidung
Niedrigster gemeinsamer Geschmacksnenner
Bildschirm vs Druckseite
Fähigkeitsverlust?
Ein bescheidener Platz
Die Zukunft des Romanciers

Schriftsteller

"Schriftsteller...." Ich füge schleunigst hinzu, daß meine Auffassung davon, was ein Schriftsteller ist und was er tut, sich seitdem sehr gwandelt hat. Ich freue mich sagen zu können, daß ich mich der Idealbilder, die ich einmal hatte, nicht gänzlich entschlagen habe, doch wurden diese Bilder inwzischen überholt (genaugenommen überrollt) von den prosaischeren Pflichten und Forderungewn des Alltags. Das Schriftstellerdasein dreht sich heutzutage hautpsächlich um die Realien der Produktion neuen Ausstoßes und der Suche nach einem Abnehmer. In meinen Jugendjahren indessen war die Produktion in meinen Augen der unbedeutendste Teil der Sache. Tatsächlich betrachtete ich das Schreiben selbst als die unvermeidliche Nebenerscheinung des Schriftstellerimago. Schriftsteller zu sein - will sagen: diese spezielle Verhältnis des Ich zur Welt zu leben -, darauf kam es an. Man brauchte nur auf die richtige Art zu leben, dann würde sich die Prosa irgendwie schon von allein einstellen. Und ich betrachtete Schriftsteller weniger im Lichte ihrer Werke als im Lichte der Einzelheiten ihrer Biographie. Machten sie ihrer Berufung mit ihrer Lebensweise Ehre? Ich las die Kurzbiographien der Autoren auf den Umschlagklappen der Bücher und meditierte über die begleitenden Photographien, wobei ich nicht nur die Gesichter, sondern ebenso aufmerksam auch den Hintergrund musterte. Ging das Fenster auf das Ägäische Meer hinaus? War das da eine Whiskyflasche, das da ein Löwenfell? (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter, S. 58)


Lesen hinter verschlossenen Türen

Als Kind erlebte ich meinen Vater als einen strengen Mann mit einer Neigung zum Aufbrausen und einer ungeduldigen Geringschätzung für alles, was einen Beigeschmack von Verträumtheit oder Versponnenheit hatte, beinahe als ob diese Zustände in irgendeiner Weise seine Autorität in Frage stellten. Ich kann seine Einstellung in diesem Punkt um so weniger nachvollziehen, als er abgöttisch seine Mutter verehrte, die einer der größten Büchernarren war, die mir in meinem Leben begegnet sind. Als wir sie zum erstenmal in Riga besuchten, war ich beim Betreten ihrer Wohnung einfach überwältigt. Mit einemal ging mir so manches über meine Erbanlage auf. In den Bücherwänden, den auf jeder verfügbaren waagrechten Fläche gestapelten Zeitungen und Zeitschriften verrieten sich mir die Symptome einer Manie, die ich nur allzu gut kannte. Mein Vater freilich ähnelte seiner Mutter in dieser Beziehung nicht im geringsten. Er war ein Mann, der mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, der zupackte, ein Macher. Nach seiner Vorstellung mußte ein Junge sich draußen in der frischen Luft aufhalten, spielen, sich nützlich machen oder sonstwas in diesem Genre. Der Anblick eines gesunden Menschen, der selbstvergessen über einem Buch saß, hatte für ihn etwas Widernatürliches. Das dürfte niemanden überraschen - es ist in unserer Kultur die vorherrschende Geisteshaltung.

Tun gilt mehr als Sein oder Denken. Man liest, weil es zu den Schularbeiten gehört oder weil sich augenblicklich keine Alternative bietet - das Arbeitspensum ist erledigt, alle Möglichkeiten anderweitigen Zeitvertreibs sind ausgeschöpft oder unzugänglich. Es verrät viel über die Beziehungsdynamik innerhalb unserer Familie, daß meine Mutter schon immer eine hingebungsvolle Leserin war und es bis heute geblieben ist. Sie liest zum Vergnügen, um mitreden zu können, um dem Alltag zu entfliehen. Ob Romane, Biographien oder populäre Geschichtsdarstellungen - es hat nie eine Zeit gegeben, zu er sie nicht mit mindestens einem Buch beschäftigt war. Falls mein Vater je daran gedacht hat, sie (zu was eigentlich?) umzuerziehen, so hat er diesen Gedanken schon längst wieder aufgegeben, aber bis auf den heutigen Tag hat er nicht aufgehört, über ihr Sichversenken in etwas zu spotten, was er als Leben aus zweiter Hand betrachtet. Von daher gesehen lag es in der Natur der Dinge, daß Bücher bei uns zu Hause zu so etwas wie einem Kriegsschauplatz wurden - wenngleich keiner das offen zugab. Im Augenblick des Lesens solidarisierte ich mich in der Optik meines Vaters nicht nur mit meiner Mutter, sondern mit dem weiblichen Prinzip überhaupt, wobei es nichts zu sagen hatte, daß ich womöglich gerade Hemingway oder Thomas Wolfe oder Ian Fleming las. Und jedesmal, wenn die Sottisen losgingen ("Was hast du mitten am Tag hier auf der Couch zu suchen? Du hast wohl nichts zu tun? Ich werd' dir sagen, was du tun sollst!"), kam meine Mutter, der zweifellos der versteckte Seitenhieb auf sie selbst nicht entging, mir eilends zu Hilfe. Woraufhin ich dann um die Einsicht nicht herumkam, daß ich in einen Auftritt verwickelt war, der dem traditionellen "Muttersöhnchen"-Szenario verteufelt ähnlich sah. Und für ein Muttersöhnchen wollte ich von niemandem gehalten werden, zuallerletzt von meinem Vater.

Deshalb begann ich mich mit dem Lesen mehr in acht zu nehmen. Zwar konnte man mich auch jetzt noch ab und an mit einem Buch in der Hand erwischen, aber mein eigentliches Leben als Leser, sein Hauptteil, spielte sich fortan hinter verschlossenen Türen ab. Wenn auch kein Geheim-, war es doch ein Klausnerleben. Ich las, wenn meine Eltern nicht im Haus waren; ich las bis in die tiefe Nacht. Es entsprach ganz meinem persönlichen Stil, mich nach außen hin meinem Vater zu fügen und gleichzeitig innerlich zu rebellieren. Indem ich ein Leser-Leben im verborgenen führte, beugte ich mich in gewissem Sinn seiner Ansicht, daß moralisch und pädagogisch gesehen nicht ganz unanfechtbar war, worauf ich die besten Kräfte meiner Jugend verwendete. Im selben Zug jedoch wies ich dem Akt des Lesens einen höheren Stellenwert in meinem Leben zu; ich stattete ihn mit dem Bimbus des Verbotenen aus. Wenn das Lesen es wert war, daß man sich seinetwegen in Vorsicht und Heimlichtuerei übte, dann mußte ihm echte Macht innewohnen. Also las ich. Ich begab mich in das All des Lesens wie in eine blendende Gegenwelt. Immenses Vergnügen bereitete mir auch schon das bloße Nachdenken über Bücher und ihre wundersame Verschlüsselung von Gedanken und Empfindungen. Es gefiel mir, daß aus einiger Entfernung, ja bei hinreichend detachierter Einstellung des Betrachters sogar aus der Nähe alle Buchseiten mehr oder minder gleich aussahen. Das Lochband des elektrischen Klaviers, das auf die Taststifte wartet. Doch für den hingebungsvollen Benutzer des Kodes war jede einzelne von ebendiesen Seiten die Erfahrung selbst. Ich begriff, daß sie etwas war, was sich der Abbildung in Regeln und Gesetzmäßigkeiten fast vollständig entzog. Niemand, nicht einmal ein anderer Leser, der dieselben Worte las, konnte wissen, was diese zeichen hervorbrachten, sobald sie den Augenstrahl hinaufgewandert waren. (S. 53-55)


Ein beschwerliches Geschäft

Ich war, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch kein gargantuesk gefräßiger Leser. Zwar roch ich ständig in Bücher hinein, las unendlich viele an, doch war ich mehr darauf aus, zu blättern, die Umschläge und Vorwörter zu studieren. Angesichts der Unmenge dessen, was ich noch nicht gelesen hatte, war ich viel zu entmutigt, als daß ich mich auf das beschwerliche Geschäft, irgendein einzelnes Buch gründlich durchzulesen, hätte beschränken können - mit Ausnahme der Bücher, die in meinen Augen einen direkten Bezug zu meinem Leben hatten: Titel von Hesse, Salinger, Kerouc und einigen wenigen anderen. (S. 60)


Eine konventionellere Belesenheit

Ich habe meine Erinnerungen mit einem aus meiner Lektüre destillierten Typusschema verschmolzen und mit der Zeit an die Realität meiner eigenen Schöpfung geglaubt. Der rastlose Träumer, der Abenteuerhungrige. Gewiß, da war schon etwas dran. Von Kindheit an hatte ich mit exzentrischer Allüre meine privaten Rollenspiele gespielt und abseitige Traumwelten bewohnt. Und fraglos waren diese Elemente auch in der Traumwelt, die ich während meiner Studienzeit bewohnte, im Überfluß vorhanden. Aber es gab noch andere, weniger von Phantasiebildungen beherrschte Seiten meines Wesens. Ich ging in eruptiven Schüben meinen Studien nach. Und irgendwie schaffte ich es auch, mir eine nüchterne und konventionellere Belesenheit anzueignen. Ich erinnere mich, daß es mir sehr darum zu tun war, für intelligent und belesen nicht nur gehalten zu werden, sondern es auch tatsächlich zu sein. Ich stellte umfangreiche Listen der Bücher zusammen, die ich meines Wissens gelesen haben mußte, um mich als gebildeter Mensch betrachten zu dürfen, und von Zeit zu Zeit bot ich meine ganze Willenskraft auf, um die Sache in Angriff zu nehmen. (S. 64)


Bibliothek in Kisten

Ich reiste mit leichtem Gepäck. Schon lange bevor ich mein Zimmer über dem Lebensmittelladen räumte, war mir klar, daß ich Ballast würde abwerfen müssen. Ich litt, während ich mein Regal durchkämmte und mich mühte, aus einer Büchermasse, die eine ganze Wand bedeckte, den Stapel herauszufiltern, der noch Platz in meinem Seesack hatte. Ich sichtete und siebte in immer neuen Durchläufen, jedesmal nach einem anderen Auslesekriterium. Bücher, die ich liebte - Bücher, die mich inspirierten - Bücher, die ich jetzt endlich einmal von Anfang bis Ende durchlesen würde... Und dann gab ich das Ganze auf. Die einzig sinnvolle Lösung war, überhaupt nichts mitzunehmen und ganz auf den glücklichen Zufall zu bauen - was ich brauchte, würde mir in dem Augenblick über den Weg laufen, wo ich es brauchte. Ich packte meine ganze Bibliothek in Kisten, die bei meinen Eltern gelagert werden würden, jedesmal wieder meine Arbeit unterbrechend, wenn mir eines meiner Paradestücke in die Hände kam: mein Hamsun, mein Miller, mein Strindberg, mein Agee, meine schönen gebundenen Ausgaben von Thoreau, Whitman und Emerson - Bücher, die ich gelesen hatte, und Bücher, die irgendwann endlich zu lesen ich noch immer vorhatte. Damals stellte ich etwas fest, was sich mir seither viele Male bestätigt hat. Niemals wirkt ein Buch verführerischer und unentbehrlicher als in dem Augenblick, wo es in einer Packkiste verschwinden soll. (S. 74)


Aufenthalt im Textraum

Wir denken uns das Lesen gern als Mittel zum Zweck. Wie das Autofahren bringt es uns von hier nach dort. Nicht selten lesen wir ein Buch nur, um es gelesen zu haben; in solchen Fällen betrachtet man den Leseakt als Registrieren des Inhalts. Wenn wir jemanden fragen: "Haben Sie 'Bleakhaus' gelesen?", wollen wir nicht wissen, ob die betreffende Person das 'Erlebnis' kennt, zu dem die Lektüre eines Romans von Dickens werden kann, sondern ob sie über das Handlungsgerüst und die grundlegenden Einzelheiten des Personals und der Thematik Bescheid weiß. Unsere Kultur ist eine Art Inventarlistenkultur, und es ist nicht zu erwarten, daß wir uns künstlerischen Hervorbringungen mit einer wesentlich anderen Einstellung nähern als derjenigen, mit der wir an das Geschäft des Lebens im allgemeinen herangehen. Doch damit nehmen wir dem Lesen viel von seiner Tragweite und Bedeutung. Denn über seine offensichtliche instrumentale Funktion hinaus hat das Sichversenken des Ich in einen Text eine fundamentale metaphysische Dimension. Aus eigenem freien Entschluß zu lesen heißt eine Willenserklärung, ein Votum abzugeben; es bedeutet, daß man ein Anderswo unterstellt und sich auf den Weg dorthin macht. Und wie alles Reisen ist das Lesen eine Art Kommentar zu dem Ort, den man hinter sich läßt. Wer freiwillig ein Buch aufschlägt, konstatiert damit auf einer bestimmten Ebene entweder die Unzulänglichkeit des eigenen Lebens oder seiner Haltung zum Leben. Der Unterschied muß festgehalten werden, denn beim Lesen verlegen wir nicht nur unseren Aufenthaltsort in den Textraum, sondern wir verändern auch unsere natürliche Perspektive auf alle Dinge; wir bringen das Ich in eine andere Position, um anders 'sehen' zu können. (S. 111)


In tiefster Versunkenheit

Der Ortswechsel von der Welt, in der wir leben, in die Welt des Buches, das wir lesen, ist ein komplexer und schrittweise verlaufender Vorgang. Wir schlagen nicht die erste Seite auf und finden uns daraufhin sofort unserer Umgebung und unseren Alltagsgeschäften entrückt. Es ist vielmehr ein langsames Eintauchen und Sichversenken, was da vor sich geht, ein Auswechslungsproeß, bei dem wir unseren Standort im Hier und Jetzt preisgeben, um im Anderswo des Buches einen neuen Standort zu beziehen. Je besser uns das gelingt, desto eher dürfen wir von uns behaupten, daß wir richtig lesen. Der Baum direkt vor uns muß verblassen, damit der Baum auf der Buchseite Kontur und Gestalt gewinnen kann. Wir sind bei diesem Vorgang durchaus nicht passiv, sondern wirken zu jedem Zeitpunkt mit. Wir wollen es so. Wir drängen uns zum Wort und durch es hindurch, wie wenn es ein Einlaß gewährendes Drehkreuz wäre. Und oft entwickeln wir dabei eine erstaunliche Gewandtheit - der Vorgang muß uns in gewisser Weise ein Bedürfnis sein. Ein Leser in tiefster Versunkenheit ist sich nicht bewußt, daß er Wörter in geistige Gebilde verwandelt. Die Umwandlung vollzieht sich automatisch, mit ebensowenig Bewußtsein wie das Fahren auf der Autobahn. Oft blättern wir beim Lesen Seite um Seite um, ohne daß wir unseres Tuns recht gewahr werden. (In dieser eigentümlichen Situation kann ein Satzfehler uns genauso harsch aus unserer Stimmung aufschrecken wie auf der Autobahn ein unversehens auftauchender Geisterfahrer.) (S. 113)


In einen Lesezustand tranportieren

Das Lesen mag zwar, wie schon gesagt, ein Aufenthalt in einem unterstellten Anderswo sein, aber das ist kein statischer, sondern ein dynamischer Zustand. Wie kann man diesen Zustand beschreiben? Was haben getrennte Leseakte auf einer Ebene jenseits der gegebenen Konstellation von Szenerie, Personal und erzählerischem Rahmen gemeinsam? Gibt es einen fundamentalen und erkennbar konstanten Zustand, in den wir immer zurückkehren, einen Zustand, der sich von anderen Zuständen ähnlicher Art, von Schlaf, Hochgefühl, Wachtraum, klar unterscheidet? Meiner Meinung nach gibt es diesen Zustand - auf jeden Fall gibt es ihn für mich. Und etliche Jahre buchhändlerische Tätigkeit haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß es ihn auch für andere gibt - nicht nur als spezifische Gemütsverfassung, sondern auch als Bedürfnis, immer wieder in diese Verfassung zurückzukehren. Habituelle Leser kennen sie und streben sie an. In Buchhandlungen beobachte ich die Kunden immer sehr genau. Den Kopf 45 Grad seitwärts geneigt, stehen sie vorm Regal und suchen häufig nicht nach einem bestimmten Buch, sondern nach einem, bei dem sie sich darauf verlassen können, daß es die angestrebte Wirkung hat. Sie wollen ein Buch mit Handlung und interessanten Figuren, keine Frage, aber zuallererst und eigentlich wollen sie ein Transportmittel, das sie in den Lesezustand befördert. (S. 115)


Simultane Bewußtheit

Das Gefühl von zwei Welten - der realen Welt und der Welt des Textes - erfahren wir noch in anderer Weise, wenn wir uns über längere Zeit mit einem Werk befassen. Von Lektüresitzung zu Lektüresitzung - lediglicxh kurzes Eintauchen während der morgendlichen Busfahrt, eingehende Vertiefung am Abend , bevor wir das Licht löschen - wandern wir nicht einfach zwischen zwei Zonen, dem Leben und dem Buch, hin und her: Wir leben in beiden zugleich, nur auf wechselnden Ebenen simultaner Bewußtheit. (S. 134)


Zustand des Anderswoseins

Der Zustand des Anderswoseins während des Lesens war in der Kindheit einmal eine wichtige Entdeckung. Sein erstes Auftreten war so phantastisch, so lustvoll, daß ich mir nichts dringender wünschte als die Sicherheit, jederzeit in ihn zurückkehren zu können. Eskapismus? Selbstverständlich. Aber damit ist das Thema nicht erschöpft. Hier hatte ich auch eine Lupe gefunden, die mir zu einer anderen Orientierung in bezug auf meinen schon damals - wenn auch vorerst nur im Keim - vorhandenen Lebensentwurf verhelfen sollte. Durch Lesen konnte ich alle Einzelheiten dieses Lebens in einem Korrdinatensystem verteilen, dessen Achsen Dringlichkeit und Zielbewußtsein waren. Diese beiden Eigenschaften bestimmten oder durchherrschten nicht nur die Handlungen aller Figuren, die in meiner Lektüre vorkamen, sondern übten, solange ich in das Energiefeld des Buches eingetaucht war, auch Druck auf mein eigenes Leben aus. Wenn sich an meinem Lesen im Laufe der Jahre irgend etwas geändert hat, so ist es dies, daß ich den Zustand, in den mich ein Buch versetzt, heute höher bewerte als den spezifischen Inhalt des Buches. Tatsächlich stelle ich häufig fest, daß selbst ein gut geschriebener und fesselnder Roman schon kurze Zeit, nachdem ich ihn zu Ende gelesen habe, in meiner Erinnerung verblaßt ist. Ich kann mich noch ganz genau der Gefühle entsinnen, die ich beim Lesen hatte, und der Stimmung, in der ich mich befand, dagegen bin ich mir der Einzelheiten der Geschichte nicht mehr so sicher. Es ist fast so, als ob das Buch für mich - um es mit dem Vergleich auszudrücken, den Wittgenstein am Ende des 'Tractatus logico-philosophicus' für seine Sätze gewählt hat - eine Leiter wäre, die man wegwerfen muß, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen ist. (S. 116)


Möglichkeit vertiefter Einsicht

... ernsthaftes Lesen kann zwar vielerlei sein, vor allem jedoch ist es ein Organ der Selbstschöpfung. Wo sie freiwillig stattfindet, gibt die Beschäftigung mit einem Buch das Verlangen zu erkennen, bestimmte innere Kräfte zu aktivieren und zu steigern. Der Leser setzt die Möglichkeit vertiefter Einsicht in das eigene Ich als selbstverständlich voraus und erkennt daraufhin das Ich als formbar. Lesen ist der intime, vielleicht geheime Teil eines weiterreichenden Lebensentwurfes, der letztlich wenig zu tun hat mit soziologisch orientierten Auffassungen vom Individuum. (S. 53f.)


Lesen ist ein Urteilsspruch

Die Selbstsituierung, wie der Leser sie trifft, ist in unserer Gesellschaft nicht sehr 'en vogue'. Mein Gefühl sagt mir, daß Nichtleser (damit meine ich nicht Analphabeten, sondern die Leute, die technisch durchaus in der Lage sind zu lesen, aber nichts davon halten) dazu neigen, das Lesen als eine Art Werturteil über sie selber, als elitären und auf Exklusivität pochenden Akt zu betrachten. Ganz falsch liegen sie mit dieser Auffassung nicht. Lesen ist ein Urteilsspruch. Es brandmarkt die Denk- und Wertungsschemata, die das alltägliche Leben beherrschen, als unzulänglich. Der Dauer verpflichtet, sperrt sich das Lesen gegen die Vorstellung von der Zeit als einem simplen Konzept von Sinnhaftigkeit, und der in ihm mitenthaltene (und selbst von Lesern nur selten beachtete) Auftrag lautet dahin, unser Leben zu ändern und danach zu streben, es im Lichte der Sinnhaftigkeit zu leben. Nicht viele Menschen sind erpicht auf diese Botschaft, denn die Verantwortung, die sie auferlegt, ist erdrückend. (S. 53f.)


Seelenzeit

Die Zeit des Lesens, die Zeit, die durch die Resonanz der Sprache des Buchautors im Ich definiert ist, ist nicht Weltzeit, sondern Seelenzeit. Ich wüßte nicht, wie die Seele in profaner Begrifflichkeit anders zu definieren wäre denn als eine Art konsequenter Verdichtung des Ich. Lesen verhilft diesem Ich zu verstärkter Präzenz. Energien, die sonst gewöhnlich durch tausend Kanäle der Zerstreuung nach außen abfließen, werden durch die Prosakadenzen gebündelt; beim Übertritt des Lesers in eine andere und vollkommen neue Welt werden sie auf ein gemeinsames Ziel konzentriert. Das frei flottierende Ich - das Ich, mit dem wir beim Autofahren oder Spazierengehen oder Herumwerkeln in der Küche wortreiche Gespräche führen - wird zur Lösung der Aufgabe dienstverpflichtet, die Erzählung zum Leben zu erwecken. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter, S. 53f.)


Beipackzettel für Bücher

Manche Bücher vereinnahmen uns so total, daß wir eine Zeitlang alles wie durch eine Spezialbrille sehen. Ob und in welcher Form das geschieht, hängt von dem Gelesenen und unserer Disposition ab. Es gibt Bücher, die ich weglege und dann vollständig vergesse, bis ich sie wieder zur Hand nehme. Andere wirken auf mich wie eine Droge, verändern meine Stimmungslage, meine Wahrnehmungsweise und zuletzt auch meine Art, mit anderen Menschen umzugehen. Lese ich beispielsweise Walker Percy, erscheint mir alles, was mir zustößt, als eine mögliche heiße Spur in einem allumfassenden existenziellen Krimi. Anita Brookner hingegen kann mich für Tage in trübselige Betrachtungen über die Hinfälligkeit allen menschlichen Strebens stürzen. Vielleicht sollte man Büchern ähnlich wie Arzneimitteln Beipackzettel mit Hinweisen auf mögliche Nebenwirkungen mitgeben: "Kann jähe Heiterkeitsausbrüche bewirken" oder "Regt zur Respektlosigkeit an" oder "Falls eine etwa sich einstellende melancholische Stimmung nach dem Lesen nicht abklingt, ist ein ausgewiesener Therapeut zu Rate zu ziehen". Die Bücher, die mir etwas bedeuten - und das sind Werke jedweder Kategorie -, sind Bücher, die etwas in mir wachrütteln. Ich lese Bücher, um in mir selbst zu lesen. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter, S. 139)


Ein Buch besetzen

Nachdem ich mich jetzt, an diesem dunklen Winternachmittag, in aller Ruhe und Behaglichkeit niedergelassen habe und außer der Katze, die gelegentlich mit trägen Bewegungen ihren Platz wechselt, sich nichts in meiner Umgebung befindet, was meine Konzentration stören könnte, ist es für mich wie immer eine Mühsal, in den Text hineinzukommen. Da will zunächst ein Kontext aufgebaut werden. Die ersten Absätze lese ich zwei-, dreimal und öfter, nicht nur um ein klares Bild von der Szenerie und der Figurenkonstellation zu bekommen - um die 'Leerstellen' und 'Unbestimmtheiten', von denen die Literaturtheoretiker sprechen, auszufüllen -, sondern auch um mich an den Sprachrhythmus und die Stimmlage des Werks zu gewöhnen. Allein schon dieser Wechsel aus der Befindlichkeit des Nichtlesens in die des Lesens macht einen großen Teil der Anstrengung aus. Ich kann nicht einfach nur einen Schalter umlegen und bin dann "drin". Ich muß erst zu entspannter Konzentration finden, ehe ich anfangen kann, in der Sprache heimisch zu werden. Die Wörter müssen im Ohr lebendig werden - ich muß sie 'hören', und es muß ein tiefgehendes Hören sein. Damit es dazu kommt, muß ich mich gradweise einregulieren.

Nach dem dritten oder vierten Lesen der ersten Abschnitte habe ich das Gefühl, daß ich die Lage peile und alles mitbekomme - ich bin soweit. Aber damit sind nicht alle Einstiegsprobleme bewältigt. Tatsächlich ist das größte Dilemma noch übrig: Soll ich mich dem Buch anheimgeben oder nicht? Ich lese die ersten Seiten, bemühe mich, sie gut zu lesen, ihnen alle Chancen offenzuhalten. Mein Zaudern verrät nicht etwa eine kapriziöse Leselust, sondern unterstreicht vielmehr, welch große Bedeutung ich der Lektüre des Ganzen beimesse. Ich weiß, daß jeder Roman, dem ich mich rückhaltlos überlasse, mich nicht nur während der Stunden noch lange darüber hinaus begleiten wird. Ich entschließe mich, mit dem Roman von McGrath weiterzumachen und öffne, tiefer eindringend, langsam die Tür zu jenem innersten Bereich, wo ich für die kommende Zeit zumindest meinen Zweitwohnsitz haben werden, während ich daneben meinen Alltagsgeschäften nachgehe. Ich versuche jetzt, meine andere Bewußtheit soweit wie möglich von der Sprache des Autors auslöschen zu lassen, mich ganz in die Welt des Autors einzuhüllen. Ich öffne mich den Klängen und Rhythmen in all ihren endlosen Modulationen. Wie schwierig das ist, kann ich an dem Grad meiner Ablenkbarkeit ermessen. Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her, blicke immer wieder mal hierhin, mal dahin in meine Umgebung.

Die Katze hat sich dem Fußende der Couch genähert und sieht mich flehentlich an. Ich befinde mich im Spagat, mit einem Fuß noch hier, mit dem anderen schon dort. Ich kehre zu den Wörtern zurück, versuche ihnen zu lauschen - und siehe da, allmählich lichten sie sich auf, reflektieren Sinn. Als das geschieht - und bei McGrath geschieht es schon sehr früh -, spüre ich einen Ruck. Die Kette ist auf dem Zahnkranz eingerastet, ein Anzug ist zu spüren, dann das Vorwärtsgleiten. Als ich das nächstemal von dem Buch aufblicke, ist die Katze nicht mehr zu sehen. Jetzt habe ich das Buch besetzt, und das Buch hat begonnen, mich zu besetzen. Die Stimmungen, die ich in ihm vorfinde, mischen sich auf unmerkliche Weise in meine eigenen mit ein. Weil ich vollständig in die Welt des Buches eingetaucht bin, trage ich es bei mir, wo ich gehe und stehe, und kehre, sobald sich in meinem Tageslauf die kleinste Lücke auftut, zu der Geschichte zurück. Und für die Dauer der Lektüre - und in vielleicht etwas abgeschwächter Form auch noch hinterher - pendle ich regelmäßig zwischen zwei Bewußtheitszentren, von denen das eine für die Verrichtung des profanen Alltags benötigt wird, während das andere aus meinem innersten Selbst seinen Anruf an mich ergehen läßt. Dieses Hin und Her - eine Art abstrakten Wechselbads - empfinde ich als belebend. In zwei sehr verschiedenartigen Wirklichkeiten aktiv zu sein, Kundschaftergänge zwischen innerem und äußerem Aufmerksamkeitsbrennpunkt zu tätigen, schärft das Sensorium für Eindrücke aller Art. (S. 135-137)


Innerer Kompost

Wie aber unterscheidet sich denn nun tatsächlich die Erinnerung an Gelesenes von der Erinnerung an wirklich Geschehenes? Die Frage führt in unübersichtliches Gelände, und die Unübersichtlichkeit wird noch gesteigert durch die eigenwillige Selektivität, mit der das Gedächtnis verfährt. Im Laufe der Zeit lagert sich in jedem Leser eine Sedimentschicht von landläufigen Einsichten und Eindrücken ab; ebenso sammelt sich aber auch ein gewaltiger Hort von sehr spezifischen Erinnerungen an. Erinnerungen an Szenen und Bilder und scheinbar nichtigen Krimskrams. Sehr oft handelt es sich dabei um aus Gott weiß welchem Grund zurückbehaltene Bruchstücke aus Büchern, die man ansonsten völlig vergessen hat. Es ist fast so, als ob der letzte Sinn mancher Lektüre nur darin bestünde, irgendeine absonderliche Gedächtnisspur zu hinterlassen. Und auch hier gelten wieder die gleichen Bedingungen für die Kunst wie für das Leben. So wie die meisten unserer Erlebnisse sich in der Erinnerung zersetzen zu einer Art innerem Kompost, der unter weit gefaßten Etikettierungen - "meine Schulzeit", "meine Zeit als Rekrut" usw. - gelagert wird, so verliert der größte Teil unserer Lektüreerlebnisse seine Konturen und verschwimmt zu einem gestaltlosen Nebel. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter, S. 146)


High-Tech-Schnittigkeit

Neben der neuen High-Tech-Schnittigkeit nimmt sich die Ordnung der Dinge, deren Repräsentanten der Buchdruck und das Schneckentempo-Nacheinander des Leseakts sind, grobschlächtig und langweilig aus. Viele Pädagogen beklagen sich, die Schüler verlören immer mehr die Fähigkeit zu lesen, analytisch zu denken, klar und konzentriert zu schreiben. Wer kann den Schülern daraus einen Vorwurf machen? Alles, was sie in ihrer Umwelt kennenlernen, signalisiert ihnen: Das sind doch alles Dinge von gestern - das Heute ist die elektronische Kommunikation. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter, S. 162)


Kampf um die Hirne der Jugend

... geht es um die Verfügung über das Einflußpotential von Texten in einem zunehmend textfeindlichen Zeitalter. Auf dem Spiel steht die Zukunft der Buchkultur und des Lesens an sich, und eine dunkle Ahnung dieses Sachverhalts treibt die eine wie die andere der streitenden Parteien an. Wie Katha Pollitt in ihrem vielzitierten Artikel in 'The Nation' scharfsinnig argumentierte: Wären wir ein Volk von Lesern, gäbe es gar kein Problem. Kein Mensch sähe einen Anlaß zum Streit in der Frage, ob Toni Morrison in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden soll, denn ihre Bücher stünden sowieso als Standardgerichte auf dem Küchenzettel eines jeden der zahllosen Leser. Daß die Lektürelisten auf einmal so wichtig sind, liegt daran, daß sie in sehr vielen Fällen die einzigen Werke der seriösen Literatur benennen, mit denen der Schüler aller Voruassicht nach jemals Bekanntschaft machen wird. Wer über den Inhalt der Listen entscheidet, hat die beste Ausgangsposition im Kampf um die Herzen und Hirne der Jugend. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien. Lesen im elektronischen Zeitalter, S. 169)


Begegnung im Medium Text

Diese "Bevormundung durch den Autor" ist ja der 'Sinn' des Schreibens und Lesens - ist es zumindest bisher gewesen. Der Autor meistert die Mittel der Sprache, um eine Vision zu schaffen, die den Leser fesselt und in gewisser Weise überwältigt; der Leser nähert sich dem Werk, um sich dem schöpferischen Wollen eines anderes zu unterwerfen. Prämisse für diese Begegnung im Medium Text ist, daß der Autor das an Weisheit, Einsicht und Perspektive auf die Lebenserfahrung besitzt, woran es dem Leser fehlt. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien)


Aufmerksamkeitsdistribution

Alles am modernen Leben (oder ist es schon das postmoderne?) zieht uns weg von dem Zustand, der die Tiefenlektüre begünstigt. Die jetzt nachrückenden Generationen, die mit dem Konsum von Musik und visuellen Medien großgeworden sind und großwerden, besitzen Reflexe und eine Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsdistribution, die absolut neu in der Welt sind. Diese Menschen vollbringen Jongleurkunststücke mit mehrfachen simultanen Kognitionsleistungen, bei denen ihren Eltern allein vom Zusehen schwindlig wird. (S. 200)


2 Arten der Kommunikation

Wie steht es jedoch mit dem Unterschied zwischen dem gedruckten Wort auf der Buchseite und dem gedruckten Wort auf dem Bildschirm? Ist es ein Unterschied des Grades oder einer der Art? Vielleicht ist es noch zu früh, die Frage zu entscheiden. Im gegenwärtigen Moment, wo wir einen prekären Spagat zwischen beiden Welten - der des Drucks und der der Elektronik - ausführen, läßt sich der Unterschied noch als ein gradueller verstehen. Doch wenn die elektronische Kommunikation schließlich die mechanische ganz verdrängt, könnte der Grad den Zustand kritischer Masse erreichen und in Art umschlagen. Oder in Unart. (S. 208)


Eine ausstehende Entscheidung

Wir können heute noch nicht sagen, ob Hypertext jemals ein Massenpublikum erreichen und von diesem als mehr aufgefaßt werden wird denn als gehobenes Nintendospiel mit der Sprache. Es könnte sein, daß der allgemeine Leser, vor die Wahl zwischen einstimmig und mehrstimmig, lineare und 'offene' Struktur gestellt, sich für das herkömmliche Angebot entscheidet und daß der Leseakt bei seiner ursprünglichen Prämisse, der Beziehung einem Gebenden und einem Nehmenden, verharrt, weil sie den Lesern gibt, was sie suchen: Gelegenheit, die eine anarchische Subjektivität der disziplinierenden Einbildungskraft eines anderen zu unterstellen, Gelegenheit, unter der Führung einer singulären Sensibilität ungeahnte Landschaften zu erkunden. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien)


Niedrigster gemeinsamer Geschmacksnenner

Der anspruchsvolle Schriftsteller ist ein Anachronismus - er kann von Glück sagen, wenn er Leser findet. Schwierige Bücher waren schon immer auf die Fähnlein der lesenden Unentwegten in der Bevölkerung angewiesen, und je mehr diese dahinschwinden, desto risikoscheuer zeigen sich die Verlage. In unserer Kultur dominieren Taschenbücher und Krämergeist. Die Folge ist, daß die literarische Produktion zunehmend den niedrigsten gemeinsamen Geschmacksnenner bedient; sie verlegt sich auf Inhalte und Ausdrucksformen, die Aussicht haben, beim breiten Publikum Anklang zu finden. Und so werden kulturelle Wertmaßstäbe geschaffen und verbreitet. Kommt es im geringsten auf Esprit und Kultiviertheit an oder auf Diffenziertheit und Gründlichkeit im Denken? Wo finden wir irgendeinen Beleg dafür, daß künstlerisches Raffinement und Unterscheidungsvermögen erstrebenswert wären - sei es aufgrund sozialer Nützlichkeit, sei es an und für sich selbst? Wir finden ihn nirgends. Auf jeden Fall nicht außerhalb des kleinen Kreises von Gleichgesinnten, den wir um uns geschart haben - 'wenn' es uns denn gelungen sein sollte, solche Menschen in nennenswerter Zahl zu finden. Ist die Literatur tot? Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive gesehen, ja. Sie ist keine Energiequelle und auch kein Repertoire gemeinsamer Überzeugungen mehr. Wenn die Literatur überlebt, dann allenfalls als eine Fluchtburg für Menschen, die sich standhaft weigern, sich der amerikanischen Massenkultur anzupassen.


Bildschirm vs Druckseite

"Das gedruckte, gebundene Buch ist heute ein Stadium in einem Prozeß, der die unliterarischste aller Größe produziert: Ware." Hand in Hand mit dieser Zurückstufung der Rolle geht ein Verlust an Autorität. Kernan berichtet, daß seine Studenten heute überzeugt sind, der Bildschirm transportiere mehr Wahrheit als die Druckseite. Anders gesagt, ihr Vertrauen in ihn ist größer. Was soll das heißen? Kann es denn einen wesentlichen Unterschied zwischen den Zeichen auf einem Bildschirm und den Zeichen auf einer Druckseite geben? Wer im Ernst so fragt, hat immer noch nicht das Wesen der Revolution begriffen, die um uns herum stattfindet. Der Siegeszug des Bildschirms und der digitalen Vernetzung hatte die Abwertung der Druckseite zur Folge. Wir sehen sie jetzt als undurchdringlich, begrenzt, ohne Anbindung an die in unseren Gedankenflügen schier transzendentale Totalität der Datenbank. Das Buch führt uns in die Sackgasse des eigenen Selbst, der Bildschirm hingegen ist die Einstiegsluke in die Existenzschicht der Kollektivität, in den Raum, wo alle Fakten zu finden sind in in kodierter Form alles Wissen lagert.


Fähigkeitsverlust?

Aus der zweiten Perspektive gesehen hat die Literatur keinen Niedergang erlebt - sie ist so gesund und substanziell wie eh und je -, aber in dem Klima der Spätmoderne, unter dem Druck einer veränderten Interessenlage sind wir nicht mehr so wie früher in der Lage, uns mit literarischer Substanz zu befassen. Unsere Lebensform bedingt, daß wir immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig aktiv und folglich überlastet, unkonzentriert, gestreßt sind. Es könnte sein, daß unser kognitiver Apparat inwzischen schon so weit modifiziert ist - in Richtung Temposteigerung und Verarbeitung komplexer Reizfluten -, daß wir nicht mehr imstande sind, das gedruckte Wort in der Weise aufzunehmen, wie es aufgenommen werden will. Der Preis der Umrüstung des Subjekts für die Anforderung des elektronischen Jahrtausends ist die Aufopferung der Fähigkeiten, die für das Lesen und die meditative Inneschau die unerläßlichen Voraussetzungen, mit dem Geist der neuen Zeit jedoch unverträglich sind. Wer von uns ist noch in der Lage, regelmäßig die Ruhe und die Gesammeltheit und den Willen aufzubringen, die nötig sind, um Henry James oder Joseph Conrad oder James Joyce oder Virginia Woolf so lesen zu können, wie sie gelesen werden wollen? Und wer von uns, dem dies gelingt, hat für die Dauer der Lektüre nicht das Gefühl, in einer Welt für sich zu leben, die durch Mauern vom Treiben der realen Welt geschieden ist? (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien)


Ein bescheidener Platz

Der Wert der Literatur überdauert, um es mit Worten W.A. Audens über die Lyrik zu sagen, "im Tal ihrer Rede, wo / ihren Pfusch treiben zu wollen Managern niemals einfallen würde" -, aber es ist ein Wert, der in immer weniger Menschen das Gefühl erweckt, ohne ihn nicht nicht leben zu können. (...) Die Literatur insgesamt ist jetzt auf dem Platz angesiedelt, den Auden als Residenz der Lyrik abgesteckt hatte. Was soviel heißt wie: Sie ist nicht ausgelöscht, sie hat ihre Anhänger, sie erregt in bescheidenem Umfang Aufsehen, letzteres allerdings, während gleich nebenan mit großem Tschingtaratata der Festzug der übrigen Welt vorbeizieht. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien)


Die Zukunft des Romanciers

Der Roman wird nicht aufgrund seines Unterhaltungswertes überleben (wenngleich er gewiß auch den hat), sondern weil er eine unverzichtbare Erfahrung bietet, die nirgendwo sonst zu haben ist. Im Vehikel der Sprache, die aus der Buchseite einen Ort der inneren Sammlung und Versenkung macht, übermittelt der Autor dem Leser das Tiefenbild der Dinge, das Bild, das der Adressat sich vielleicht selber schaffen würde, hätte er nur die erforderliche Zeit, Konzentrationsfähigkeit und mit Phantasie gepaarte Hellsicht. Auf die Zukunft des Romans zu bauen ist eine Wette mit ungewissem Ausgang. Vorausgesetzt wird dabei, daß der Romancier im Interesse des eigenen Überlebens neue, unter Umständen alles andere als realistische Ausdrucksmittel findet, die sinnfällig machen, wie dringlich die Änderung der Verhältnisse ist. Vorausgesetzt wird ferner, daß die Menschen aus einem Rest von Sinnesverlangen heraus, oder weil ihnen angst und bange wird bei dem Gedanken, was aus ihrem Leben geworden ist, sich wieder an den Romancier wenden und bei ihm das Wissen suchen, was ihnen not tut. Falls nichts dergleichen geschieht, wird er Romancier gleich neben den Muschel- und Elefenbeinschnitzern im Museun der traditionsgeheiligten, aber letztlich nutzlosen Künste landen. (Sven Birkerts: Die Gutenberg- Elegien)


Sven Birkerts: Die Gutenberg-Elegien. Lese im elektronischen Zeitalter. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1997. ISBN 3-10-003508-9


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