Die Lust am Text


von Roland Barthes

Wenn ich bereit bin, einen Text nach seiner Lust zu beurteilen, kann ich mich nicht dazu verstehen, zu sagen: dieser ist gut, jener ist schlecht. Keine Preise, keine Kritik, denn diese impliziert immer einen taktischen Zweck, einen sozialen Gebrauch und oft einen imaginären Vorwand. Ich kann nicht dosieren, mit nicht vorstellen, der Text sei vervollkommnungsfähig, einsatzbereit in einem Spiel der normativen Prädikate: das iat zuviel von diesem, zu wenig von jenem; der Text (und das gilt auch für für die Gesangsstimme) kann mich nur zu jenem keineswegs adjektiven Urteil hinreißen: das ist es! Oder mehr noch: das ist es für mich! Dieses "für mich" ist weder subjektiv noch existentiell, sondern nitzscheanisch (Zugrunde liegt immer, "was ist das für mich?"). Die arabischen Gelehrten scheinen, wenn sie vom Text sprechen, den wunderbaren Ausdruck der gewissen Körper zu gebrauchen. Welcher Körper? Wir haben mehrere; den Körper der Anatomen und Physiologen, den die Wissenschaft sieht und ausspricht: das ist der Text der Grammatiker, der Kritiker, der Kommentatoren, der Philologen (das ist der Phäno-Text). Aber wir haben auch einen Körper der Wollust, ausschließlich aus erotischen Beziehungen bestehend, ohne irgendein Verhältnis zum ersten: das ist eine andere Aufgliederung, eine andere Benennung; ebenso beim Text: er ist nur die offene Liste der Lichter der Sprache (jener umherstreifenden Züge, die wie Saatkörner im Text verstreut sind und uns auf glückliche Weise die semina aeternitatis ersetzen, die zopyra, die landläufigen Begriffe, der fundamentalen Postulate der alten Philosophie).

Der Text hat eine menschliche Form, er ist eine Figur, ein Anagramm des Körpers? Die Lust am Text wäre nicht reduzierbar auf sein grammatisches (phäno-textuelles) Funktionieren, so wie die Lust des Körpers nicht reduzierbar ist auf das physiologische Bedürfnis. Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt - denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich. Die Lust am Text ist nicht zwangsläufig triumphierender, heroischer, muskulöser Art. Kein Anlaß, sich zu straffen. Meine Lust kann sehr wohl die Form eines Treibens annehmen. Ein solches Treiben geschieht immer dann, wenn ich nicht das Ganze respektiere und wenn ich, wie ein Korken auf dem Wasser hinundhergetrieben je nach den Illusionen, Verfrühungen und Einschüchterungen der Sprache, selbst unbeweglich bleibe und mich um die unnachgiebige Wollust drehe, die mich an den Text (an die Welt) bindet. Zu einem Treiben kommt es jedesmals, wenn die soziale Sprache, der Soziolekt mir schwindet (so wie man sagt: mir schwindet der Mut). Deshalb wäre ein anderes Wort für das Treiben: die Unnachgiebigkeit - oder vielleicht auch: die Dummhiet. Mit jemandem zusammensein, den man liebt, und an etwas andres zu denken: so habe ich die besten Einfälle, so finde ich am besten, was ich für meine Arbeit brauche. Das gleiche gilt für den Text: er erregt bei mir die beste Lust, wenn es ihm gelingt, sich indirekt zu Gehör zu bringen; wenn ich beim Lesen oft dazu gebracht werde, den Kopf zu heben, etwas anderes zu hören.

Ich bin nicht notwendig durch den Text der Lust gefesselt; es kann eine flüchtige, komplexe, unmerkliche, geistesabwesende Handlung sein: eine plötzliche Kopfbewegung, wie die eine Vogels, der nicht hört, was wir hören, der hört, was wir nicht hören. Die Lust am Text beachtet keine Ideologie. Indessen: das ist eine Unverschämtheit nicht aus Liberalismus, sondern aus Perversion: der Text, seine Lektüre, sind gespalten. Durchbrochen, gesprengt wird die moralische Einheit, die die Gesellschaft von jedem menschlichen Produkt verlangt. Wir lesen einen Text (der Lust) so, wie eine Fliege im Raum eines Zimmers umherfliegt: in plötzlichen, wie endgültig wirkenden, geschäftigen und sinnlosen Zickzackbewegungen: die Ideologie geht über den Text und seine Lektüre wie die Röte über ein Gesicht (manche genießen diese Erröten in der Liebe); jedem Schriftsteller der Lust passiert dieses alberne Erröten (Balzac, Zola, Flaubert, Proust: einzig Mallarme ist vielleicht seiner Hautfarbe Herr): bei einem Text der Lust sind die entgegengesetzten Kräfte nicht mehr im Zustand der Verdrängung, sondern des Werdens: nichts ist wirklich antagonitisch, alles ist plural. Leichtfüßig passiere ich die Nacht der Reaktion. Bei Fecondite von Zola, zum Beispiel, ist die Ideologie flragrant und besonders klebrig: Naturismus, Familiarismus, Kolonialismus; dennoch lese ich weiter. Ist diese Verrenkung banal? Man kann es vielmehr verblüffend finden, mit welcher haushälterischern Geschicklichkeit das Subjekt sich spaltet, seine Lektüre teilt, der Ansteckung durch das Urteil, der Metonomie des Zufriedenseins widersteht: liegt das daran, daß die Lust objektiv macht?


© Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996


[Fundstücke]  [LB-Startseite]  [E-Mail]