Julian Barnes: Romanverbote


1. Es soll keine Romane mehr geben, in denen eine Gruppe von Menschen durch äußere Umstände isoliert wird, worauf ihre Mitglieder in den "Urzustand" zurückfallen und zu aufs Wesentliche beschränkten, armen, nackten, zweizinkigen Geschöpfen werden. Es darf nur noch eine einzige Kurzgeschichte geschrieben werden, das Finale des Genres, der Korken zu der Flasche. Ich werde sie für Sie schreiben. Eine Reisegesellschaft erleidet irgendwo eine Schiffs- oder Flugzeughavarie und strandet, zweifellos auf einer Insel. Einer davon, ein großer, mächtiger, unsympathischer Mann, hat eine Pistole. Er zwingt alle übrigen, in einer Sandgrube zu hausen, die sie selber gegraben haben. Immer mal wieder holt er sich einen Gefangenen heraus, erschießt ihn oder sie und verspeist den Kadaver. Es schmeckt ihm gut, und er wird dick. Als er seinen letzten Gefangenen erschossen und verspeist hat, beginnt er sich Sorgen zu machen um seine Ernährung; aber zum Glück erscheint in diesem Moment ein Wasserflugzeug und rettet ihn. Der Welt erzählt er, er sei der einzig Überlebende des damaligen Unglücks und habe sich von Beeren, Blättern und Wurzeln ernährt. Die Welt bestaunt seine fitte körperliche Verfassung, und in den Schaufenstern von Vegetarierläden wird ein Plakat mit seinem Foto ausgestellt. Niemand kommt ihm jemals auf die Schliche.

2. Es soll keine Romane mehr geben über Inzest. Nein, nicht einmal absolut geschmacklose.

3. Keine Romane, die in Schlachthäusern spielen. Ich gebe zu, dies ist momentan ein sehr kleines Genre; doch in letzter Zeit ist mir die zunehmende Verwendung des Schlachthauses in Kurzgeschichten aufgefallen. Das muß im Keim erstickt werden.

4. Erlassen wird ein 20-Jahres-Verbot für Romane, die in Oxford und Cambridge spielen, und ein 10-Jahres-Verbot für andere Universitätsprosa. Kein Verbot für Prosaliteratur, die in Polytechniken spielt (wenn auch keine Subvention zu ihrer Förderung). Kein Verbot für Romane, die in Grundschulen spielen; ein 10-Jahres-Verbot für Prosaliteratur, die in höheren Schulen spielt. Ein Teilverbot für Romane vom Erwachsenwerden (einer pro Autor erlaubt). Ein Teilverbot für Romane, die im historischen Präsens geschrieben sind (wie gehabt, pro Autor einer). Ein Totalverbot für Romane, deren Hauptfigur ein Journalist oder Fernsehmoderator ist.

5. Es wird ein Quotensystem eingeführt für erzählende Literatur, die in Südamerika spielt. Zweck dieser Vorkehrung: die Ausbreitung von Pauschalreisen-Barock und faustdicker Ironie einzudämmen. Nein, dieses Nebeneinander von billigem Leben und teuren Prinzipien, von Religion und Banditentum, von überraschender Ehre und willkürlicher Grausamkeit; nein, dieser Daiquiri-Vogel, der seine Eier auf den Flügeln ausbrütet; nein, dieser Fredonna-Baum, dessen Wurzeln an den äußersten Spitzen seiner Zweige wachsen und vermöge dessen Fasern der Bucklige die hochmütige Frau des Hazienda-Besitzers auf telepathischem Wege schwängern kann; nein, dieses Opernhaus, das nun vom Dschungel überwuchert ist. Erlauben Sie mir, auf den Tisch zu pochen und "Ich passe" zu murmeln. Für Romane, die in der Arktis oder der Antarktis spielen, gibt es Entwicklungshilfe.

6 a) Keine Szenen, in denen eine geschlechtliche Vereinigung zwischen einem Menschen und einem Tier stattfindet. Die Frau und der Delphin, zum Beispiel, deren zärtliche Paarung in einem höheren Sinne das Wiederanknüpfen jener Marienfäden symbolisiert, die die Welt einstmals zu einer friedvollen Gemeinschaft verband. Nein, nichts davon.

6 b) Keine Szenen, in denen eine geschlechtliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau (delphinartig, könnte man sagen) in der Dusche stattfindet. Meine Gründe sind in erster Linie ästhetischer, aber auch medizinischer Natur.

7. Keine Romane über kleine, bislang vergessene Kriege in entlegenen Teilen des British Empiren in deren mühevollem Verlauf wir folgendes lerben: erstens, daß die Briten durchschnittlich böse sind, und zweitens, daß Krieg etwas wirklich Garstiges ist.

8. Keine Romane, in denen der Erzähler oder irgendeine Person nur noch durch eine Initiale ausgewiesen ist. Das wird noch immer praktiziert.

9. Es soll keine Romane mehr geben, die eigentlich von anderen Romanen handeln. Keine "modernen Fassungen", Bearbeitungen, Fortsetzungen, Vorgeschichten. Keine einfallsreiche Fortschreibung von Werken, die beim Tod des Autors unvollendet waren. Statt dessen wird jeder Schriftsteller mit einem bunten Woll-Strickmustertuch versehen, das er sich über den Kamin hängen soll. Darauf steht: Stricke dein eigenes Zeug.

10. Es soll ein 20-Jahres-Verbot für Gott geben; oder vielmehr für den allegorischen, metaphorischen, allusiven, hintergründigen, unpräzisen und mehrdeutigen Gebrauch von Gott. Der bärtige Obergärtner, der immerzu den Apfelbaum hegt; der weise Schiffskapitän, der nie vorschnell urteilt; die Figur, mit der man nie richtig bekannt gemacht wird, die einem aber in Kapitel Vier irgendwie unheimlich wird... ab damit auf den Speicher, samt und sonders. Gott ist nur zulässig als nachweisbare Gottheit, die stocksauer wird über die Vergehen des Menschen.


Julian Barnes: Flauberts Papagei. Zürich: Haffmans, 1989. S. 140-143


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