(Zeit)Aspekte des BücherlesensInhalt
Lebenszeit, Lesezeit Lebenszeit, Lesezeit... daß es immer an Zeit fehlt, um zu lesen, was gelesen werden müßte, und zum zweiten, daß das Buch womöglich länger Bestand hat als das befristete menschliche Leben. Diese Aussicht kränkt natürlich den Narzißmus moderner Zeitgenossen, die in der eigenen Lebenszeit das Maß von Dauer, wenn nicht gar von Ewigkeit sehen (siehe Kapitel 14). Linderung verschafft inzwischen die Bücherindustrie, deren stetig weiterwachsende Überproduktion die Illusion unterhält, ein Menschenleben sei, verglichen mit der kurzen Lebensdauer immer hektischer verramschter und aus dem Programm verschwundener Bücher, von geradezu unbegrenzter Dauer. Denn wer erinnert sich noch an die Titel der erfolgreichen Bestsller von vor fünf Jahren, außer der Buchhaltung der jeweiligen Verlage, die damit einmal eine Menge Geld verdient haben. Das Leben ist kurzUnterricht in "kreativem Lesen", so wie der "philosophe occupe de sa lecture" es vormacht, schlägt George Steiner als Antidot gegen die Dispersion in einer Flut flüchtiger Information vor, die Stunde für Stunde über uns hereinbricht. Der Vorschlag hat, wie der Autor Steiner selbst, alle meine Sympathie, ebenso wie jeder Appell zur Verlangsamung, doch zweifle ich an der Heilkraft dieser Therapie. Denn Leseunlust hat nicht einfach mit sich ausbreitender kultureller Legasthenie zu tun, die mit pädagogischen Maßnahmen zurückgedrängt werden könnte; sie hängt mit tiefer gehenden Veränderungen zusammen, die Vorstellung und Begriff von Dauer und Lebenszeit in Mitleidenschaft ziehen. Der Schriftsteller Anatole France gab davon einen Vorgeschmack, als er die Frage nach seinem Verhältnis zu Proust mit diesem Satz beantwortete: Was wollen Sie? Das Leben ist zu kurz, und Proust ist lang." Mehr als eine Kulturtechnik... die Antwort, die der Romancier Jacques Poulin in seinem Roman "Volkswagen Blues" eine Indianerin auf die Frage geben läßt, warum sie Jack Kerouacs Roman "On the road" noch einmal liest: "Wer nicht wiedergelesen hat, hat nicht gelesen." In diesem Sinn verstanden, ist Lesen das Gegenteil von Konsum, der sich im Hier und Jetzt vollzieht. Es braucht Zeit, in der Innehalten, Wiederholen, Vor- und Zurückspringen Platz hat. Eben der Zeitaspekt verbietet es, Bücherlesen schlicht kulturtechnokratisch unter die "Kulturtechniken" einzureihen, die sich mit der Zeit eben ändern, sich gar rationalisieren oder durch andere gleichwertige Techniken ablösen lassen. Unter dem Gesichtspunkt der Verbindung mit der Zeit betrachtet, bedeutet Bücherlesen keineswegs bloß einen vielleicht liebenswerten, aber letzten Endes marginalen Zeitvertreib; es kann nämlich auch als Metapher für den Umgang mit der Zeit aufgefaßt werden, den die im Sinn ihrer Vordenker verstandene Demokratie verlangt. (...) Überlebensbedingungen des Lesens verteidigen heißt deshalb mehr als nur Überlebensbedingungen einer altehrwürdigen "Kulturtechnik" verteidigen. Gegenteil von ZeitvertreibBücherlesen, so wie es sich im Lauf der Neuzeit herausgebildet und verbreitet hat, setzte folglich nicht nur freie Verfügung über die Zeit voraus, sondern auch das Bewußtsein, daß Zeit einen persönlichen Wert hat, den man nicht durch beliebiges Zeittotschlagen vernichtet. Lesen war für Michel de Montaigne das Gegenteil von Zeitvertreib; Zeit des Lesens, Zeit des bewußten Verweilens in der Zeit. Nach- und WechselwirkungenBücherleser erleben Gegenwart und vergehende Zeit auf eine ganz bestimmte Weise, die ihnen erlaubt, etwas vom eigenartigen Wesen vergehender Zeit zu erfassen. Ich lese in diesem Augenblick den Satz in einem meine Aufmerksamkeit fesselnden Roman; im nächsten Augenblick bin ich schon beim nächsten Satz, im darauffolgenden beim nächsten. Ich kann den ersten Satz nicht Wort für Wort behalten, aber ich läse die folgenden Sätze völlig anders, wenn die Erinnerung an die Lektüre des Satzes in meinem Bewußtsein nicht vorhanden wäre. Von der nicht zu greifenden Flüchtigkeit des Augenblicks, den ich gerade jetzt erlebe und der vom nächsten Augenblick verjagt sein wird, bleibt etwas zurück, wenn ich diese Folge von Augenblicken lesend erlebe. Jeder lesend verbrachte Augenblick wirkt auf diese Weise auf die anderen gegenwärtigen und künftigen Augenblicke des Lesens zurück, färbt sie mit Bedeutung ein, die nicht in ihnen selbst entstanden sind. Das, was ich lesend als Jetzt erlebe, ist deshalb nie ganz vergangen, wenn es vergangen ist, es ist als Erinnerung an Bedeutungen auch noch in allen folgenden Jetzts präsent. Lesen bringt die Zeit nicht zum Stillstand, entzieht ihrem Vergehen aber die überlieferte christliche Konnotation der Leere und des Verlusts. Lesen ist nicht linearAußerdem können Leser jederzeit innehalten und zurückblättern und das, was als Erinnerung an einen zuvor gelesenen Satz irritierend zurückblieb, mit dem tatsächlich gelesenen Satz vergleichen und dadurch wieder zu neuen Einsichten kommen. Wenn ich den Satz suche, kann ich ihn nachlesen - aber so, wie er mir das erste Mal begegnete, finde ich ihn nicht wieder. Jacques Poulins Indianerin vom Stamm der Montagnais hat vollkommen recht: "Wer nicht wiedergelesen hat, hat nicht gelesen", und daraus folgt, daß es ganz und gar unsinnig ist, Lesen als "lineare" Form der Rezeption zu bezeichnen. Linear ist sie nur dann, wenn sie die in jedem Buch enthaltene Möglichkeit des Zurückspringens nicht nutzt, aber dann handelt es sich auch lediglich um Konsum bedruckter Seiten. Die "Kulturtechnik" Lesen, wie der scheußliche Kulturmanagerausdruck lautet, ist eben nicht nur eine Rezeptionstechnik, sondern eine durch nichts anderes ersetzbare Möglichkeit, sich, indem man sich auf die in Büchern aufgezeichnete Spur eines anderen Denkens und einer anderen Phantasie einläßt, auch anders, und nach eigenen Rhythmen, in der Zeit zu bewegen. Verhältnis zwischen Zeit und Wort"Das gesamte Verhältnis zwischen Zeit und Wort, zwischen Sterblichkeit und dem Paradox des literarischen Überlebens, welches für die abendländische Kultur von Pindar bis Mallarme von so entscheidender Bedeutung war (...) hat sich gewandelt." (Georg Steiner) - Dieser Wandel bedeutet ja nicht, daß Bücher heute schlicht im Verschwinden begriffen sind, so wie in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts befürchtet wurde, als Audio- und Videokassetten massenhaft auf den Markt kamen und eine das Gedruckte hinwegfegende Invasion des Audio- Visuellen befürchten ließen. Die Buchproduktion in Ländern wie den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien ist seither sogar stetig weitergewachsen. Bücherleser sollen sich also zufrieden zurücklehnen können: Der Nachschub vielleicht nicht, doch etwas anderes ist ins Rutschen geraten, es betrifft das, was Steiner als das "Verhältnis zwischen Zeit und Wort" bezeichnet. ZeitverschlingerIn dem Streit zwischen Anhängern der Beschleunigung und Freunden der Langsamkeit können Bücherleser und schreibende Bücherleser nicht unparteiisch sein. Denn Lesen und Schreiben verlangen und fressen sehr viel Zeit, daran vermögen ein paar technische Erleichterungen nicht viel zu ändern. Der Lesezeit Zeit geben"Ich reise daher zwar nie ohne Bücher, ob Krieg oder Frieden", schrieb Montaigne (...) in seinem Essay "Über dreierlei Umgang", "doch es pflegt Tage und Monate zu dauern, ehe ich sie zur Hand nehme. Ich werde es demnächst tun, sage ich mir, morgen vielleicht oder wann immer ich Lust hierauf habe. Inzwischen läuft die Zeit dahin und vergeht, ohne mich zu ängstigen; denn es läßt sich gar nicht sagen, ein wie beruhigendes Gefühl mir das Bewußtsein gibt, daß die Bücher mir zur Seite stehen, um mich, sobald ich ihrer bedarf, zu erfreuen. Die Erkenntnis, welch große Hilfe sie für mein Leben bereithalten, gibt mir Sicherheit. Sie sind die beste Wegzehrung, die ich für unsere irdische Reise gefunden habe, und ich bemitleide zutiefst alle Menschen von Verstand, die ihrer ermangeln." Solcher Umgang mit Büchern, der sich nicht nur beim Lesen selbst Zeit läßt, sondern der Lesezeit Zeit gibt, sich selbst ihren geeigneten Moment zu suchen, gehört einer unendlich weit zurückliegenden Epoche an, einer Zeit, in der niemand Benjamin Franklings Ermahnung "Remember that time is money" verstanden hätte. Lesen verlernenDenn Lesen, das über das Entziffern von Buchstaben und das Erkennen von Wortbedeutungen hinausgeht, ist eine Fertigkeit, die sich auch wieder verlieren kann, wie eine von Joachim Kasier einmal mitgeteilte bezeichnende Anekdote zu verstehen gibt. Ein Antiquar wurde zu einem sich auf den Ruhestand vorbereitenden Geschäftsmann an den Starnberger See gerufen und gebeten, die prächtige Bibliothek des Hauses in Augenschein zu nehmen; auf seine Frage, warum der Bibliotheksbesitzer jetzt, wo er die Zeit dazu habe, sich nicht an seinen Bücherschätzen erfreuen wolle, erhielt der Antiquar diese Antwort: "Ich habe den Umgang mit den Büchern verlernt - jetzt kann ich's nicht mehr." Kopieren oder Abschreiben... läßt sich nicht übersehen, daß es einen Einfluß der Kopiertechnik auf die Art des Lesens gibt: Während es das Abschreiben und Exzerpieren, das jahrhundertelang innig mit dem Lesen verbunden war, technisch überflüssig macht, nährt es die Illusion, mit dem Kopieren habe, nur sehr viel schneller, bereits eine dem Abschreiben ebenbürtige Aneignung des jeweiligen Textes stattgefunden. Dabei ist der Text weniger angeeignet worden, als es beim gewöhnlichen Lesen geschieht. Die inneren AnsichtenSo kommandiert allein der abgeschriebene Text die Seele dessen, der mit ihm beschäftigt ist, während der bloße Leser die neuen Ansichten seines Innern nie kennenlernt, wie der Text, jene Straße durch den immer wieder sich verdichtenden inneren Urwald, sie bahnt: weil der Leser der Bewegung seines Ich im freieren Luftbereich der Träumerei gehorcht, der Abschreiber aber sie kommandieren läßt. © Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, München, 2000 |