Eine Erbschaft verlesenvon Paul Auster Damals begann ich, Onkel Victors Bücher zu lesen. Zwei Wochen nach der Beerdigung nahm ich mir wahllos einen der Kartons vor, schlitzte mit einem Messer vorsichtig das Klebeband auf und las alles, was ich darin fand. Es war eine seltsame Mischung, anscheinend ohne bestimmte Ordnung oder Absicht zusammengepackt. Romane und Schauspiele, Geschichtsbücher und Reisebücher, Schachlehrbücher und Krimis, Science-Fiction und philosophische Werke - ein vollkommenes Durcheinander von Gedrucktem. Mir war das einerlei. Ich las jedes Buch bis zum Ende und weigerte mich, ein Urteil darüber zu fällen. Für mich war jedes Buch jedem anderen Buch gleichwertig, bestand jeder Satz aus genau der richtigen Anzahl von Wörtern und stand jedes Wort genau an seinem Platz. So also wollte ich um meinen Onkel Victor trauern. Eine Kiste nach der anderen öffnen und jedes einzelne Buch darin lesen. Das war die Aufgabe, die ich mir stellte, und ich hielt durch bis zum bitteren Ende. Jede neue Kiste enthielt ein ähnliches Durcheinander wie die erste, einen Mischmasch aus nieder und erhaben, massenhaft Eintagsfliegen neben Klassikern, zerfetzte Paperbacks zwischen gebundenen Ausgaben, Kommerz dicht an dicht mit Donne und Tolstoi. Onkel Victor hatte seine Bibliothek auf systematische Weise geordnet. Jedes neuerworbene Buch hatte er neben das zuletzt gekaufte ins Regal gestellt, und nach und nach waren die Reihen angewachsen, hatten im Laufe der Jahre immer mehr Platz eingenommen. Und genauso waren die Bücher in die Kisten gewandert. Wenn auch sonst nichts stimmte, die Aktuellie war intakt, die Reihenfolge durch Saumseligkeit erhalten geblieben. Ich hielt das für eine ideale Anordnung. Jedesmal, wenn ich eine Kiste aufmachte, konnte ich einen anderen Abschnitt von Onkel Victors Leben besichtigen, einen bestimmten Zeitraum von Tagen, Wochen oder Monaten; mich tröstete das Gefühl, daß ich denselben geistigen Raum betrat, den Victor auch schon einmal betreten hatte - ich las dieselben Worte, lebte in denselben Geschichten, dachte womöglich sogar dieselben Gedanken. Fast war es, als folgte ich der Route eines Forschers aus längst vergangenen Tagen, als wiederhole ich seine entschlossenen Schritte in unberührtes Gebiet, westwärts mit der Sonne, dem Licht hinterher, bis es schließlich erlosch. Da die Kisten weder nummeriert noch beschriftet waren, konnte ich nie im voraus wissen, in welchen Abschnitt ich mich begeben würde. Die Reise war daher eine Folge von einzelnen, unzusammenhängenden Spritztouren. Von Boston nach Lenox etwa. Von Minneapolis nach Sioux Falls. Von Kenosha nach Salt Lake City. Es kümmerte mich nicht, daß ich gezwungen war, auf der Landkarte herumzuspringen,. Am Ende würden alle weißen Flecke ausgefüllt und alle Fernen durchmessen sein. Viele der Bücher kannte ich bereits, einige waren mir von Victor vorgelesen worden: Robinson Crusoe, Doktor Jekyll und Mr. Hyde, Unsichtbar. Davon ließ ihc mich aber nicht abhalten. Ich ackerte mich durch alles mit gleichbleibender Leidenschaft, verschlang alte Werke ebenso gierig wie neue. In den Ecken meines Zimmer wuchsen Stapel gelesener Bücher, und wann immer einer dieser Türme umzustürzen drohte, packte ich die gefährdeten Bände in zwei Einkaufstüten und nahm sie auf meinem nächsten Gang zur Columbia mit. Gleich gegenüber dem Campus lag am Broadway Chandler's Bookstore, ein vollgestopftes, staubiges Rattenloch, das schwunghaften Handel mit alten Büchern trieb. Zwischen dem Sommer 1967 und dem Sommer 1969 erschien ich dort Dutzende Male, um nach und nach mein Erbe zu veräußern. Es war die einzige tat, die ich mir zugestand. - Gebrauch zu machen von dem, was mir ohnehin gehörte. Es bereitete mir Kummer, mich von Onkel Victors ehemaligen Besitztümern zu trennen, doch war mir dabei klar, daß er es mir nicht übelgenommen hätte. Durch das Lesen der Bücher hatte ich meine Schuld bei ihm gewissermaßen beglichen, und bei meiner akuten Geldknappheit schien es mir nur logisch, den nächsten Schritt zu unternehmen und die Bücher zu Geld zu machen. Das Problem war, daß ich nicht genug daran verdiente. Chandler war nur auf seinen Vorteil aus, und er dachte von Büchern so ganz anders als ich, daß ich kaum wußte, was ich ihm sagen sollte. Für mich waren Bücher keine Behälter für Wörter, sondern eher die Worte selbst, und der Wert eines bestimmten Buches ergab sich mehr aus seinem geistigen Rang als aus seinem äußerlichen Zustand. So war etwa ein eselohriger Homer wertvoller als ein bildschöner Vergil; drei Bände Decartes waren nicht soviel wert wie einer von Pascal. Für mich waren das fundamentale Unterschiede, aber für Chandler gab es sie einfach nicht. Ein Buch war für ihn lediglich ein Gegenstand, ein Ding, das der Welt der Dinge angehörte, und als solches unterschied es sich nicht wesentlich von einem Schuhkarton, einer Saugglocke oder einer Kaffeekanne. Jedesmal, wenn ich einen Teil von Onkel Victors Bibliothek zu ihm brachte, begann der alte Mann mit der gleichen Prozedur. Er befingerte die Bücher voller Verachtung, prüfte die Rücken, suchte nach Flecken und Schäden und vermittelte stets den Eindruck eines Mannes, der in einem Haufen Unrat wühlt. Das waren die Spielregeln. Tiefstpreise konnte Chandler nur bieten, wenn er die Ware schlechtmachte. Nach dreißig Jahren Übung beherrschte er die Sache aus dem Effeff, hatte ein Repertoir von Gemurmel und beiläufigen Bemerkungen, schmerzlichem Grimassen, Zungenschnalzern und traurigem Kopfschütteln parat. Dieses Theater sollte mir die Belanglosigkeit meines Urteils vor Augen führen, sollte mich beschämt die Dreistigkeit erkennen lassen, mit der ich ihm diese Bücher überhaupt anzubieten wagte. Wollen Sie allen Ernstes Geld für diese Sachen haben? Erwarten Sie etwa Geld vom Müllmann, wenn er Ihren Abfall wegbringt? Ich wußte daß ich betrogen wurde, protestierte aber nur selten. Was hätte ich denn machen sollen? Chandler war der Stärkere, und daran ließ sich nichts ändern - denn ich wollte immer unbedingt verkaufen, und ihm lag nie etwas am Kaufen. Es hatte auch gar keinen Sinn, ihm meinerseits Gleichgültigkeit vorzuspielen. Dand wäre der Handel einfach nicht zustande gekommen, und das wäre am Ende noch schlimmer gewesen, als betrogen zu werden. Ich fand heraus, daß ich gewöhnlich besser fuhr, wenn ich ihm kleinere Mengen Bücher brachte, also höchstens zwölf bis fünfzehn auf einmal. dann schien der Durchschnittspreis pro Buch ein wenig zu steigen. Aber je geringer der Erlös, desto öfter mußte ich wiederkommen, und mir war klar, daß ich ihn so selten wie möglich aufsuchen durfte - denn je mehr ich mit Chandler zu tun hatte, desto schwächer wurde meine Position. Ich konnte also tun, was ich wollte, Chandler mußte immer gewinnen. In all diesen Monaten machte der Alte sich nicht die Mühe, mit mir zu reden. Er grüßte nicht, er lächelte nicht, er gab mir nicht einmal die Hand. Er tat so interessenlos, daß ich mich manchmal fragte, ob er sich von einem Besuch zum anderen überhaupt an mich erinnerte. Was Chandler anging, hätte ich jedesmal ein neuer Kunde sein können - einer von einer Reihe diverser Fremder, einer beliebigen Masse. Aus: Paul Auster: Mond über Manhattan, Reinbek: rororo, 1993. S. 34ff. [Fundstücke] [LB-Startseite] [E-Mail] |